Am Pregel bei Puschdorf
Die Stätte meiner Kinderzeit, der Raum um P u s c h d o r f, bildete eine besonders
reizvolle Strecke des Pregeltales. Neben seinen zwei großen Schwestern Weichsel und
Memel ist der Pregel nur der kleine bescheidene Bruder, aber in seiner Abseitigkeit
und Unberührtheit lag ein seltener Liebreiz. In dem weiten Urstromtal, das oft über
einen Kilometer breit ist und sich die Inster hinauf bis nach Kraupischken hin
erstreckt, floß er in dem schmalen, von Weidenbüschen umsäumten Bett. Das weite
Wiesenland kreuzten nur wenige Straßen mit ihren Brücken bei Tapiau, Wehlau, Taplacken
und Norkitten. Meilenweit dazwischen lag ein Stück Urnatur, eine noch nicht
erschlossene Welt in verträumter Einsamkeit, die nur in den Tagen der Heuernte sich
mit Menschen belebte, abgesehen von den wenigen Anglern, denen sich eine herrliche
Morgenfrühe mit vielfältigem Nachtigallenchor erschloß, und ein paar Kindern, die
gern mal einen sonntäglichen Streifzug hierher machten, wenn Schlüsselblumen, wilde
Schneeballbüsche, rote Pechnelken und die blaue, sibirische Iris blühten oder dicke
Brombeeren aus dem Weidendickicht lockten. An dem Urstromrand der Wiesen lag ein
langer, schmaler Moorstreifen, der ehemals ein abgeschiedener Arm, nun nach seiner
Verlandung unsere Bruchwiesen trug und die Torfstiche der Piater Kätner. Hier fand
man nach den rundblättrigen Sonnentau, Porstbüsche und Bärlapp-Polster. Hier blühte
das Heidekraut und weiße Wollgrasflöckchen schimmerten über dunklem Moorwasser. Der
Wald, der an die Bruchwiesen stieß war das "Boarebrook", eine wilde, sumpfige Ecke
der Puschdorfer Forst, in der sich der letzte Bär unserer Gegend gehalten hatte.
Neben dem Bruch hatten die Wasser einen Kieswall von mächtiger Tiefe ausgespült, der
sich von Reichenhof an der Taplacker Gemarkung über die Puschdorfer Ackerflur bis
nach Piaten hinzog. Er hat 1858 - 1860 riesige Mengen Kies für den Bahnbau geliefert
und auch das 1922 dort erbaute Schleuderbetonwerk des Ostpreußenwerkes versorgt.
Hinter diesem Wall aber dehnte sich ein weites Sandfeld von Piaten mit seinem
Kiefernwald über Senklerkrug und Altwalde bis nach Wehlau hin.
In den "Piater Fichten" nistete die größte Saatkrähenkolonie unserer Gegend, und wenn
die Kinder der Piater Schule mit ihren Fahnen in unser Dorf einrückten zum
gemeinsamen Schulfest, schrien wir nicht "Hurra" zu ihrer Begrüßung, sondern
empfingen sie mit einem herzhaften "Krah-Krah". Doch sie nahmen es uns nicht übel.
In die nun folgende tonige Platte, die über Gr.-Eschenbruch und Gr.-Jägersdorf weit
ins Land reichte, hatten sich die kleinen Zuflüsse des Pregels, die Auxinne und
Menge (sprich: "Menje"), tiefe und romantische Täler geschnitten.
Die langen Fahrten zu unseren Wiesen brachten uns Kindern immer beglückende
Abenteuer. Da gab es den bei Begradigung des Flußlaufes abgetrennten Alten Pregel,
strauchüberwuchert wie ein Urwalddschungel, und die tiefe Mulde des "Seeloches",
die sich winters mit Wasser und Fischen füllte und im Sommer bis auf einen
winzigen Tümpel austrocknete. Köstlich waren auch die Hütetage im Spätherbst, wo
die Wiesenweite allen Herden des Dorfes offenstand. Beim Lagerfeuer in der
errichteten Strauchhütte fühlten wir uns wie Nomaden in einer fremden Steppenwelt.
Zu Schlittschuhfahrten lockten uns die unabsehbaren Eisflächen der überschwemmten
Wiesen. Sank dann das Wasser, legten sich die Schollen über die Hügel, und es
entstand eine wilde, arktische Landschaft mit Eisbergen, Rissen und Spalten. Den
Neuen Pregel zu betreten war uns verboten, aber wir wagten es zuweilen mit einigem
Herzklopfen. Doch müssen die Winter früherer Zeit strenger gewesen sein;
denn nach den Erzählungen meines Großvaters haben die Puschdorfer Bauern auf dem
Pregel die dicken Eichenstämme aus der Forst mit Schlitten nach Königsberg
transportiert. Herrlich war es auch, wenn unser Vater nach heißen, staubigen Tagen
in der Ernte oder beim Dreschen nach dem Abendbrot mit uns zum Baden fuhr. Alle
Helfer und viele Nachbarn füllten den langen Leiterwagen. Da viele damals noch
kein zünftiges Badezeug besaßen, badeten sie in ihren langen Hemden. Es gab viel
Spaß und Juchzen, Scherz und Schabernack, bis wir heimfuhren, erschöpft und
erquickt zugleich, und zart und klar ein Lied aufklang in die märchenstille
Sommernacht.
Der Verkehr auf dem Pregel war über Wehlau hinaus recht spärlich. Es war immer ein
Ereignis, wenn einmal die breiten Segel eines Flußkahnes über die Weidenbüsche
dahinglitten oder er stromaufwärts getreidelt wurde. Doch muß wohl vorzeiten, als
die Eisenbahn noch nicht bestand, der Verkehr reger gewesen sein. In vielen
Dörfern des Pregeltales gab es noch ansässige Flußschiffer, und noch zu meiner
Kinderzeit lagen immer zwei bis drei Schiffsrümpfe mit ihren stolzen Masten in
dem Nachbardörfchen Piaten in der Menge eingefroren in Winterruhe. Und mein
Großvater mütterlicherseits, der hier geboren war, hat seine Kinderjahre noch auf
dem Kahn seines Vaters verlebt, ehe er heimlich von zu Hause ausrückte, weil ihn
die große Seefahrt lockte. Viele Jahre lang ist er auf allen Meeren der Welt gefahren.
Im Zuge der Besiedelung
Einmal aber hat unser Pregel eine große Rolle gespielt als die Straße, auf der die
Eroberung und Besiedelung des Landes von der Komturei Königsberg aus ostwärts in
die damalige heidnische Wildnis geführt hat. Nachdem 1336 die Insterburg und
Ordenshäuser in Taplacken und wohl auch Norkitten erbaut worden waren, entstand
nach und nach am Rand des Pregeltales eine Kette deutscher Dörfer, errichtet alle auf
Rodeland am Rand der großen Wälder. Ihre Reste waren heute noch hinter diesem
Siedlungsstreifen deutlich erkennbar. Sie zogen sich nördlich vom Samland her über
Gertlauken und Gr.-Schirrau bis nach Skaisgirren hin, und der südliche Gürtel ließ
sich gut vom Zehlaubruch her über die Astrawischker und Waldhauser Forst bis hin
zur Angerapp verfolgen. Bis zum Jahre 1500 war das Pregeltal besiedelt, und
Insterburg bekam schon 1583 die Stadtrechte.
Puschdorf und Stablacken gehörten damals zur Kämmerei der Altstadt Königsberg und
schon 1510 erhielten sie ihre Kirche. Der Plan war, sie mitten zwischen beiden
Dörfern im Walde an der alten Straße zu errichten, die von Wehlau über Norkitten
nach Insterburg führte. Doch die Sage berichtet, daß alles Baumaterial, das man
an diesen Ort fuhr, am nächsten Morgen immer verschwunden war. Man fand es auf dem
Dorfanger von Puschdorf. Ob man es auch tags wieder an die alte Stelle brachte, von
Gottes Engeln wurde es nachts wieder entführt, bis man einsah, daß es wohl Gottes
Wille war, daß sein Haus nicht einsam im wilden Wald, sondern in dem lieblichen,
vom Mühlenbach durchflossenen Wiesental mitten im Dorfe stehen sollte. So erbaute
man dort das den beiden Dörfern gemeinsame Gotteshaus. (Es bleibt jedem Zweifler,
der etwa den zarten Händen der Engel eine so grobe Arbeit nicht zumuten möchte,
unbenommen zu vermuten, ob es nicht doch die Puschdorfer Bauern waren, die sich
angemaßt hatten, Werkzeuge eines göttlichen Willens zu sein.) An der Stelle, wo es
zuerst erbaut werden sollte, lag dann aber in den schweren Jahren 1709 und 1710,
als die Pest auch das stille Pregeltal nicht verschonte, der Friedhof, auf dem
beide Dörfer ihre Pesttoten begraben haben.
In dem recht entvölkerten Landstrich kaufte ab 1721 der Fürst Leopold von Dessau
einen weiten Streifen Land zwischen Insterburg und Wehlau. 10000 ha mit neunzehn
Gütern und großen Waldstücken. Er verhalf dem Lande wieder zu Wohlstand. Durch ihn
wurde auch die Puschdorfer Kirche 1733 nach dem Vorbild der Georgskirche in Dessau
neu erbaut. Gut fünfzig Jahre später zerstörte jedoch ein durch Blitzschlag
verursachter Brand Turm und Dachstuhl. Bei der Wiederherstellung 1769 erhielt sie
ihre heutige sehr schlichte Gestalt. An die Stelle des Turms trat ein in Fachwerk
errichteter Glockenstuhl. Altar und Kanzel überstanden die Katastrophe. Sie stammen
noch aus den Jahren 1638 und 1639. Die Kanzel zeigte im Oberteil den siegreichen
Heiland, flankiert von zwei weiblichen Gestalten, die wohl Tugenden verkörperten.
Und heute ? Frauen, die 1945 noch im Dorf zurückgeblieben waren, berichten, daß das
von den Russen zerstörte und ausgeräumte Kircheninnere als Kinosaal diente und die
Kanzeltür mit dem ergreifenden Bild des Gekreuzigten als Steg über dem Mühlenbach
gelegen hat.
Als im Juni 1757 die Russen in Ostpreußen einfielen, kam Kriegsnot auch in unser
Pregeltal. Am 30. August entbrannte ein harter und ungleicher Kampf bei Gr.-Jägersdorf,
in dem die Preußen unter Feldmarschall von Lehwaldt der Übermacht weichen mußten.
Unser Dorf lag nahe am Schlachtfeld; die Bauern verließen es und begaben sich mit
ihrem Vieh und aller wertvollen Habe in den Schutz der Wälder. Und der Satz in
unserer Kirchenchronik "Die silbernen und goldenen Altargeräte versenkte man in
den Brunnen des Wirtes Audirsch am Ende des Dorfes" hat mich immer mit besonderem
Stolz erfüllt, bekundet er doch, daß damals schon meine Vorfahren auf dem Hof
meiner Kindheit seßhaft waren.
Kriegsnöte brachten auch die Jahre 1807 bis 1812, wo sich das Vieh wieder in den
Wäldern befand und man das wenige Brotkorn dieser Hungerjahre mit gemahlener
Birkenrinde strecken mußte. Aber nichts ist dem vergleichbar, was an Grauen und
Elend dieser letzte Krieg unserer Heimat brachte.
Quelle: Ostpreußenblatt 04.12.1955, Autor: Fritz Audirsch